Der Vogel und der Wurm

Vor vielen, vielen Jahren lebte hier, gar nicht weit weg, ein ganz besonderer Vogel. Was an diesem Vogel so besonders war? Nun, auf den ersten Blick nicht viel. Er hatte wohl Federn, wie all die anderen Vögel auch. Er sang wie sie und er flog wie jene im Baum. Er konnte in diesen Dingen kein besonderes Talent beweisen. Aber in seinem Herzen hatte er außergewöhnlich viel Liebe. Und er verschenkte sie nach seinem Herzen. Und fragte nicht nach dem Wieso. Dies machte ihn zu einem ganz besonderen Vogel im ganzen Schwarm, ja vielleicht in der ganzen Gegend.

Es war einer dieser sehr wunderbaren Tage. Die Sonne schien ganz prächtig und alle Vögel im Baum waren ganz entspannt und froh. Keiner von ihnen war krank. Keine Katze war in der Nähe oder hatte sich in den letzten Tagen auch nur blicken lassen. Die Küken waren dabei ganz großartig zu wachsen und es gab Nahrung im Überfluss: Mücken, Käfer, Larven und Maden so viel das Vogelherz begehrte.

An eben jenem Tage machte sich auch unser besonderer Vogel auf den Weg. Er flog hinunter zum Teich um den Durst zu stillen und beäugte aufmerksam die Gegend. Und tatsächlich, gleich neben dem alten Birkenstamm, welcher langsam vor sich hin verrottete, bewegte sich etwas. Aufmerksam kam der Vogel näher. Kurz sah er die rosafarbene und runde Form eines ausgesprochen großen und prächtigen Wurmes. Ein solches Fressen war dem Vogel nun gerade recht und er stieß sich ab, zwei, drei Flügelschläge, die Krallen weit gestreckt und er hatte den Wurm.

Doch dieser Wurm war gerade in solchem Maß groß wie auch schwer und der Vogel konnte ihn nicht weit oder hoch tragen. Und er hatte ihn auch nicht gut gegriffen und so flog er nur gerade noch auf den alten Birkenstamm hinauf und ließ den Wurm dort fallen. Als er den Wurm dann wieder ergreifen wollte, konnte dieser sich knapp in eine kleine Höhle im Stamm verkriechen. „Dummer Wurm!“, schimpfte der Vogel und landete gleich neben dem Astloch. Er versuchte den Wurm mit dem Schnabel zu erreichen, aber das Loch war zu tief und der Wurm hatte sich ganz an dessen Ende verkrochen.  „Nicht dumm, denn ich lebe noch, möchte ich meinen!“, erreichte den Vogel eine leise Stimme aus dem Astloch. Ganz irritiert und überrascht, ganz verdutzt hielt der Vogel inne. Noch nie hatte er einen Wurm reden gehört. Nie war er auf die Idee gekommen, so etwas sei möglich. „Warst du das Wurm?“, fragte der Vogel zögernd nach. „Natürlich, wer denkst du ist noch hier in dem Astloch!“, war die wütende und bestimmte Antwort. Dann schwiegen beide.

„Das ist seltsam“, nahm der Vogel das Gespräch wieder auf. „Ich wusste nicht, das ihr Würmer sprechen könnt. „Nun ja, das tun wir auch nicht oft, wenn der ganze Mund voll Sand ist, spricht es sich schlecht.“, war die Antwort.

So kam es, dass der Vogel und der Wurm begannen, sich zu unterhalten. Sie nahmen bald dieses und bald jenes Thema auf und schon allzu bald brach die Nacht herein und als dann der Morgen kam und die Sonne bereits wieder begann den Horizont zu verlassen und in die Höhen des Himmels aufzusteigen, da sprachen sie, wenn auch merklich müder und unterbrochen von vielem Gähnen, immer noch miteinander.

„Hm, es wird bereits wieder Morgen. Und mein Magen knurrt schon so laut, dass er bald lauter ist als ich selbst.“ sprach der Vogel da zum Wurm. „Ich werde nicht heraus kommen und mich fressen lassen.“, entgegnete der Wurm vorsichtig. „Nein,“ lachte da der Vogel, „das sollst du auch gar nicht. Ich werde mir ein paar Mücken erjagen und drüben am Kompost sind immer einige Maden zu finden.“ „Gut“ gab der Wurm da erleichtert zurück. „Es wird aber auch Zeit für mich in die feuchte Erde zurückzukehren.“ Und dem Vogel war es schon aufgefallen, wie der Wurm sich hin und wieder über die in den ersten Sonnenstrahlen immer trockener werdende Luft beklagt hatte. „Aber wenn ich jetzt hier heraus komme, dann wirst du mich sicher fressen, ganz bestimmt.“ „Nein, werde ich nicht, Freunde fresse ich doch nicht!“ antwortete der Vogel. Und er hatte tatsächlich in dieser Nacht Freundschaft geschlossen mit dem großen Wurm. Denn es war ja auch ein besonderer Vogel. Einer, der sein Herz schnell verschenkte. „Bist du immer hier an dem alten Birkenstamm?“ fragt der Vogel den Wurm. „Ich würde gerne unsere Unterhaltung fortsetzen. Es war so spannend und großartig mit dir.“ „Sicher, ich bin immer hier in der Gegend“ gab der Wurm, noch immer zweifelnd und zögerlich zurück. Dann flog der Vogel fort und machte sich auf die Suche nach Maden und Mücken.

Am Abend kehrte der Vogel ganz neugierig zum Birkenstamm zurück. Im Astloch konnte er keinen Wurm erkennen und er rief nach ihm. Nach einer Weile, der Vogel wollte eben zu seinem Baum zurückkehren, da hörte er die Stimme des Wurmes aus der Nähe. „Ich hätte es fast nicht geglaubt. Doch ich danke dir für deine Ehrlichkeit. Ich bin hier unter dem Stamm.“ Der Vogel hüpfte den Stamm herunter und unten von der Erde aus konnte er unter den Stamm blicken und sah den Wurm tief hinten, halb unter einer Wurzel, heraus schauen. „Nun, ich werde dich auch heute nicht fressen“, sprach da der Vogel amüsiert. Und er hatte auch nichts dagegen, das der Wurm dort unter dem Stamm war, weit genug hinten, um von keinem Vogelschnabel erreicht zu werden. Und sie begannen, sich wieder zu unterhalten.

Und so ging es nun fort. Jeden Tag trafen die beiden sich und redeten und lachten und träumten gemeinsam. Der Wurm fasste auch immer mehr Vertrauen und bald trafen sie sich immer unten am Schilfrohr beim Teich und der Wurm versteckte sich nicht mehr unter der Wurzel. Und so geschah es, dass für unseren Vogel der Wurm immer wichtiger wurde. Er wurde zu seinem besten Freund, zu seinem Seelengefährten, zu seiner Liebe. Und mit der Zeit kehrte der Vogel auch immer seltener zu seinem Baum zurück und blieb am Teich. Er wurde auch immer dünner, denn er fraß keine Würmer mehr und es blieb nicht viel Zeit um nach Mücken zu jagen und nach Käfern zu schnappen.

Eines Tages, es war schon weit im Sommer, fast im Herbst, da begann der Wurm nicht mehr so oft zu kommen. Das wunderte den Vogel und als er den Wurm fragte, was los sei, so wollte dieser nicht viel sagen. Dann irgendwann erzählte er dem Vogel, er habe jetzt den perfekten Wurmgefährten gefunden, er sei so verliebt und glücklich. Und dieser Moment brach dem Vogel das Herz. Und er blieb stumm und traurig zurück, denn der Wurm hatte sich bereits wieder verabschiedet und war auf dem Weg zu seinesgleichen.

Der Wurm kam immer und immer wieder zum Gespräch am Schilfrohr am Teich vorbei. Doch für den Vogel war es nicht mehr dasselbe. Dennoch hatte er Angst, dem Wurm gegenüber zu erzählen, wie er sich fühlte und der Wurm bemerkte nichts.

In diesen Tagen hatte der Vogel auch wieder einmal Besuch aus seinem Schwarm. Die ganze Zeit über hatte es zwei Freunde gegeben, welche ihn immer mal wieder besuchten, wenn sie gerade beim Teich waren. Beide wussten wohl von dem seltsamen Leben, aber sie mochten den Vogel von Herzen gern und hatte es akzeptiert. Als dieser Tage einer dieser beiden Freunde vorbei kam, da schüttete unser besonderer Vogel ihm sein Herz aus. Und der Vogelfreund hörte ihm zu, tröstet ihn und sprach ihm Mut zu. „Du bist nun mal ein Vogel!“ sagte er ihm einige Male. Und als der Abend graute und der Vogel wieder allein war, da hüpfte er hinunter zum Schilfrohr und tatsächlich traf er dort den Wurm. „Wurm, ich möchte dir gerne einiges erzählen.“, begann er das Gespräch und er berichtet dem Wurm von all seinen Gefühlen. Als er geendet hatte, da war der Wurm sehr verwirrt und wusste nicht viel dazu zu sagen. Er hatte den Vogel wohl als einen interessanten Gesprächspartner angesehen, hatte sich über das seltsame Verhalten des Vogels gewundert und ihn irgendwann als einen seltsamen und verrückten Kauz verstanden. Ganz entrüstet über den Vogel, welcher wohl glaubte, dass für einen Wurm ein Vogel wichtig werden könnte, entgegnete er: „Das ist doch lächerlich. DU bist ein Vogel und ich bin ein Wurm. Nichts haben wir beide gemeinsam. Du solltest dich nach deinesgleichen richten.“

In diesem Moment wurde dem Vogel vieles klar und er machte einen Satz, packte den Wurm und fraß ihn auf. Und er dachte dabei: Ja, ich bin ein Vogel und du warst ein Wurm. Und ich hatte einen wunderschönen Traum. Jetzt ist er vorbei. Und er kehrte zum Baum zurück und verschenke seine Liebe unter seinesgleichen. Und es gab neue Träume für ihn. Und Würmer, die fraß unser besonderer Vogel nun auch wieder. Besonders gerne suchte er sie unten am Teich. Doch gesprochen hat er mit ihnen nie wieder auch nur ein Wort. 

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